Anders als in Österreich schließen die finnische Gewerkschaften Kollektivverträge durchschnittlich für zwei bis drei Jahre ab. Dabei lassen sich die KV-Partner:innen jedoch die Möglichkeit offen, auf unvorhergesehene Entwicklungen (z.B.: höhere Inflation) durch Nachverhandlungen reagieren zu können. Rahmenrechtliche Vereinbarungen (z.B.: kürzere Normalarbeitszeit) hingegen werden während der KV-Gültigkeitsdauer nicht abgeändert.
Die finnischen Gewerkschaften sind grundsätzlich zufrieden mit den mehrjährigen Abschlüssen und rechtfertigen diese auch mit dem hohen Ressourcenaufwand während der Verhandlungsprozesse.
Was auch spannend ist: in Finnland wird die für Lohnerhöhungen relevante Inflationsentwicklung nicht wie bei uns rückwirkend betrachtet, sondern in die Zukunft prognostiziert. Dabei müssen sich die Gewerkschaften auf die Vorhersagen der Arbeitgeber:innen verlassen und auf deren Basis die Lohnsteigerungen verhandeln.
Ähnlich wie bei uns, konzentrieren sich die Gewerkschaften bei den KV-Verhandlungen nicht nur auf Lohnerhöhungen, sondern fassen insbesondere auch rahmenrechtliche Verbesserungen ins Auge. Dabei spielen eine bessere Work-Life-Balance oder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine große Rolle.
Besonders bemerkenswert: die Dienstleistungsgewerkschaft PAM kämpft in den KV-Verhandlungen für das Recht der Beschäftigten, unter gewissen Umständen von Teil- auf Vollzeit aufstocken zu können. Diese Forderung deckt sich quasi 1:1 mit der Forderung der GPA, wonach (Teilzeit-)Beschäftigte, die über einen längeren Zeitraum kontinuierlich Mehrstunden leisten, das Recht haben sollen, eine Erhöhung ihrer vertraglich festgten Arbeitszeit zu beantragen.
Die gewerkschaftliche Struktur in Finnland ist anders aufgebaut als in Österreich. Die einzelnen lokalen oder betrieblichen Gewerkschaften reihen sich in die jeweiligen Branchengewerkschaften ein. Diese wiederum gehören einem der drei Dachverbände an, die sich nach Berufsgruppen unterscheiden (Arbeiter:innen, Angestellte und Akademiker:innen). Sind Gewerkschaften aller drei Dachverbände in einem Betrieb vertreten, können drei verschiedene Kollektivverträge (KVs) zur Anwendung kommen.
Die KV-Abdeckungsrate ist im europäischen Vergleich durchaus hoch mit 85-90%. Die Voraussetzungen für die allgemeine Gültigkeit von KVs sind ähnlich wie bei uns. Eine mit dem österreichischen Bundeseinigungsamt vergleichbare Behörde erklärt einen KV unter gewissen Voraussetzungen für allgemein gültig. Dies bedeutet, dass auch AGs, die kein Mitglied in ihrer freiwilligen Interessenvertretung sind, diesen KV anwenden müssen. Die Voraussetzungen dafür sind, dass 50% der AGs der freiwilligen AG-Vereinigung angehören (wichtigste Kennziffer). Die Gewerkschaften sollen ungefähr 50% Mitglieder in dem betreffenden Sektor vorweisen können. Was in den meisten Bereichen auch gelingt.
Herausforderungen in der finnischen KV-Politik gibt es – ähnlich wie bei uns – viele. Die AGs versuchen seit Jahren die allgemeine Gültigkeit von KVs zurückzudrängen. Im Forstbereich ist es den AGs beispielsweise gelungen, den nationalen KV gänzlich aufzuheben und die Gewerkschaften dazu zu zwingen, mehr als 120 einzelne Firmen-KVs aus zu verhandeln. Auch die lohnpolitischen Elemente der KVs versuchen die AGs mehr und mehr auf die betriebliche Ebene oder sogar auf das individuelle Level herunter zu brechen.
Die finnischen Gewerkschaften kämpfen jedoch weiterhin für qualitativ hochwertige und allgemein gültige KVs, die den Beschäftigten faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen ermöglichen sollen.
Die rechtskonservative finnische Regierung hat vor allem eines auf ihrer Agenda: die Rechte von Arbeitnehmer:innen und Gewerkschaften einzuschränken. Dies lässt sich anhand von Gesetzesänderungen und geplanten Vorhaben deutlich erkennen.
Angriffe auf die Gewerkschaften
In Finnland gab es über viele Jahrzehnte hinweg das sogenannte „tripartite System“. Arbeitnehmer:innen, Arbeitgeber:innen & die Regierung haben sich über wesentliche wirtschafts- und sozialpolitische Fragen in Form eines Kompromisses geeinigt. Mit großem Erfolg!
Die rechtskonservative Regierung untergräbt diesen nationalen Konsens (nicht zuletzt auf Bestreben der Arbeitgeber:innen) jedoch systematisch und schließt die Gewerkschaften mehr und mehr von den Entscheidungsprozessen aus.
Ab 2025 sollen die Gewerkschaften materiell geschwächt werden: Die Regierung hat die Abschaffung der steuerlichen Absetzbarkeit des Gewerkschaftsbeitrages auf den Weg gebracht.
Angriffe auf das Streikrecht
Sogenannte „politische Streiks“, die nicht direkt in Zusammenhang mit einem KV-Konflikt stehen, wurden gesetzlich auf 24h begrenzt. Die Möglichkeit von Solidaritätsstreiks wurde ebenfalls stark eingeschränkt. Einzelnen Teilnehmenden an Streikmaßnahmen drohen empfindliche Strafen von bis zu 200 Euro.
Angriffe auf Arbeitsbedingungen und den Sozialstaat
Die finnische Regierung hat bereits eine Vielzahl an Einschnitten für Beschäftigte bzw. Beschäftigungslose umgesetzt oder in Aussicht gestellt. Nur mit viel Widerstand konnte verhindert werden, dass der erste Krankenstandstag unbezahlt ist. Die Lockerung des Kündigungsschutzes hingegen ist bereits in Kraft getreten.
Die Streichung bei Kinderbeihilfen oder die Kürzung des Arbeitslosengeldes konnten ebenfalls durchgesetzt werden.
Die Gewerkschaften stemmen sich mit viel Kraft gegen dies Angriffe und sind dabei auch teilweise erfolgreich. Ein Hoffnungsschimmer sind die nationalen Wahlen 2027, die auf einen Machtwechsel hoffen lassen.
Am 28. April begann mein Europapraktikum in Helsinki. Ich wurde von meiner gastgebenden Gewerkschaft TEK (zuständig für akademische Ingenieur:innen und Architekt:innen) sehr herzlich aufgenommen und konnte bereits erste spannende Termine absolvieren. Auch ein Austausch mit der Industriegewerkschaft Teollisuusliitto stand zu Beginn am Programm.
Das Highlight bisher bildeten die Feierlichkeiten rund um den 1. Mai, dem sogenannten Vappu. Am 30. April begingen traditionell die Student:innen ihren Vappu und legten den Universitätsbetrieb lahm.
Der Aufmarsch der Arbeiter:innenbewegung zum 1. Mai war hingegen überschaubar. Lediglich kleine Abordnungen einzelner Parteien/Organisationen beteiligten sich am Festzug inklusiver Abschlusskundgebung. Die Gewerkschaften waren ebenfalls nur sehr dünn vertreten. Die Gewerkschaft TEK beispielsweise nahm am Aufmarsch nicht teil. Der 1. Mai wird also von den finnischen Gewerkschaften durchaus weniger zelebriert, als wir das aus Österreich gewohnt sind.